In diesen ersten Monaten des Jahres 1945 sind die Menschen in Hirschberg von Informationen abgeschnitten. In ihrer Ungewissheit versuchen sie, sich unter der russischen Besatzung zurecht zu finden, den kargen Alltag zu meistern und mit den wenigen Vorräten zu überleben. Da sind die Weichen allerdings schon längst gelegt, und der Zug der Geschichte, der 1939 ins Rollen kam, kommt jetzt so richtig in Fahrt. In 45 Jahren werde auch ich in diesen Zug steigen, damit ich später, als erwachsene Frau dort Wurzeln schlagen kann, wo meine Reise angefangen hatte: in dem auf einer Anhöhe malerisch gelegenen Dorf Idzbark am Fluss Drwęca, ehemals Drewenz. Aber noch nicht jetzt. Jetzt sind die Hirschberger erst einmal damit beschäftigt, die Drewenz von den stinkenden Pferdekadavern und Leichen zu befreien. Bald darauf überbringt ihnen einer der im Dorf stationierten sowjetischen Soldaten die Nachricht: „Hitler kaputt!“. Anfang Juli bezieht der erste Pole ein Haus in Hirschberg. Es ist das Haus der Bonins, in dem die Familie immer noch wohnt. Aus Hirschberg wird Idzbark. Es beginnt ein Kommen und Gehen. Ende und Neuanfang tanzen engumschlungen wie Schneeflocken in einem Wintersturm und gehen fließend ineinander über. Die Einen gehen nach Norddeutschland, wo sie in Übergangslagern aufgenommen werden. Die anderen kommen aus der Gegend von Warschau, aus Lwow oder Sibirien. So auch, wenn auf vielen Umwegen, der junge Pole Marian Kamiński. Im Frühling des Jahres 1946 streift er das Dorf auf seiner Rückkehr aus Berlin, wo er vor einem Jahr gemeinsam mit seinem Bruder der Roten Armee den Krieg gewinnen helfen musste. Es ist eine Rückkehr, aber keine Heimkehr. Ein Zuhause hat der junge Mann schon lange nicht mehr, und zwar genau seit dem 10. Februar 1940. An diesem frostigen Wintertag wurden um 2 Uhr in der Früh Marian, seine sieben Geschwister und die Eltern in Rudki bei Lwow von Rotarmisten aus ihren Betten gezerrt und auf Schlitten gejagt. „Die Deutschen durften ja wenigstens was mitnehmen. Wir durften nur das mitnehmen, was wir uns anziehen konnten. So hat man uns mit Schlitten auf den Bahnhof gebracht. Dort wartete schon der Transport. Bis zu 300 Menschen fasste so ein Viehwagen. Die Stehenden und Liegenden mussten sich abwechseln. Nach einem Monat und acht Tagen, das haben kluge Alte gezählt, waren wir in Krasnojarsk angekommen.“ Mit diesen Worten beginnt Apolonia Wojarska ihre Geschichte. Wir sitzen am Küchenfenster in ihrem Haus an der von Ahornen gesäumten Dorfeinfahrt von Idzbark. Die Achtundachtzigjährige trägt eine Brille mit dicken Gläsern, eine Steppweste und ein Kopftuch. Ihre Füße sind in warme Wollsocken gehüllt, und sie sorgt sich auch um meine Füße, denn ich bestehe darauf, meine tropfenden Winterstiefel auszuziehen. Aus dem Nebenzimmer ertönt der katholische Radiosender Radio Maria. Ein Priester spricht zusammen mit einer Anruferin den Rosenkranz. Apolonia Wojarska erzählt mir von der sibirischen Odyssee ihrer Familie und davon, wie sie im April 1946 in Omsk ein Brief aus Polen erreichte: „Mein Bruder kam durch dieses Dorf und beschloss zu bleiben. Er hatte ja kein richtiges Zuhause, aber in Omsk warteten seine Frau und sein Kind. Er schickte uns die Adresse. Da hatte Stalin uns deportierten Polen schon die Ausreise erlaubt. Mein Vater war um diese Zeit schon tot, einer der Brüder gefallen. Ein weiterer lag in Poznań mit offener Bauchdecke im Krankenhaus. Wir übrigen haben Anfang April 1946 Omsk verlassen“. Ihre neue Heimat, die sie zum ersten Mal mitten in der Kirschblüte erlebt, beschreibt sie als „wunderschön“. „Wir waren ja bitterarm gewesen“, ergänzt Frau Wojarska. Für die Neunzehnjährige und ihre Angehörigen stehen die Lebensverhältnisse im Idzbark der Nachkriegszeit trotz ihrer Bescheidenheit im krassen Kontrast zu den Baracken in der Taiga und der Kolchose in Omsk. Die Familie zieht in ein leerstehendes Haus am Ende des Dorfes ein. Schnell macht man sich mit den Dorfbewohnern bekannt, unter denen noch viele Hirschberger sind. „Gajewski, Sadowski, Marchlewitz. Viele hatten polnische Nachnamen.“ „Wie haben sie sich mit ihnen verständigt?“, hake ich nach. „Wie wir uns verständigt haben? Die sprachen doch alle Polnisch. Ihre Urgroßeltern, das waren noch Polen gewesen. Dann haben sie sich germanisiert. Der Kontakt mit den Nachbarn war ganz normal. Der eine hat den anderen besucht. Die Marchlewitz ist hier gestorben. Der Siegfried, ihr Sohn, kommt noch manchmal und besucht hier das Grab. Der alte Gajewski, der musste nach Sibirien, der kam nie wieder. Manche sind dann weggefahren, manche sind geblieben.“ Ob es keine Berührungsängste zwischen den Dagebliebenen und den Zugereisten gegeben hätte, frage ich. „Nein, wir hatten keine Angst. Man hat sofort eine Kuh gekauft, ein Schwein. Es gab Arbeit zuhauf, Kinder wurden geboren.“ Hier in der warmen Küche von Apolonia Wojarska, fernab von dem Mediendiskurs und der Politik wird die Große Geschichte auf Einzelschicksale reduziert. Als Destillat bleibt das Menschliche übrig, das uns allen gemeinsam ist, egal ob in Hirschberg oder Idzbark. Egal, ob Deutscher oder Pole.
Immer öfter denke sie in letzter Zeit an die wahre Heimat, die jetzt zur Ukraine gehört: „In Sibirien, da lebte man noch so, als ob man zurück könnte nach Hause. Aber das ging nicht. Die hatten sofort unseren Hof auseinander genommen. Das war ja alles neu gewesen. Bis heute denke ich daran. Wenn ich sterbe, soll meine Seele nach Rudki fliegen. Der Mensch will immer dahin zurück, wo er geboren ist. Das hier, das ist nur vorübergehend.“ Als ich an der Küchentür meine Winterstiefel anziehe, bittet mich Frau Wojarska noch, ihren Namen nicht in der Zeitung zu nennen: „Aber erwähne bloß meinen Namen nicht, sonst schlagen die mich noch tot oder – um Gottes Willen – nehmen mich zurück nach Sibirien. Mir ist viel Unglück widerfahren. Ich würde lieber sterben, als noch einmal nach Sibirien zu gehen. Den Polen erzähl‘ das nicht, erzähle es den Deutschen. Die haben keine Angst vor dem Russen. Die sollen wissen, wie die Russen waren, wie sie sind.“ Ich trete hinaus in die sonnige Kälte. Der Schnee auf den Feldern blendet. Ich nehme den Heimweg durch die in Weiß gehüllte Ahornallee, vorbei am stillgelegten Friedhof, der auch von unserer Pension aus erkennbar ist und auf dem mein Vater eines Tages ruhen möchte, weil man von dort aus „einen herrlichen Blick auf die Pension hat“. Und auf mein neues Haus. Die Gräber sind jetzt vom Schnee bedeckt, aber die Inschrift auf der neuen Granittafel ist sehr gut erkennbar. In goldenen Lettern steht da in deutscher Sprache: „Zum Gedenken der Bürger von Hirschberg, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben und ihre Heimat verloren. Sie mahnen zum Frieden.“ Ich blicke mich ein wenig um auf dem Friedhof. Die Gräber sind aufgeräumt. Man sieht, dass viele davon gepflegt werden, und ich denke daran, wie viele Kerzen hier dieses Jahr an Allerheiligen gebrannt haben. Nicht nur die Schulkinder in Idzbark kümmern sich regelmäßig um den Friedhof, auch manche Dorfbewohner, die die Vorbesitzer ihrer Häuser kennen, kommen hierher. Sie pflanzen und gießen Blumen oder fegen im Herbst die bunten Ahornblätter von den Grabsteinen. Hier in Idzbark haben mehrere Familien ihren „Helmut“ in Deutschland. Nicht selten sind es Freundschaften fürs Leben mit gegenseitigen Einladungen, Briefen, die ich manchmal übersetze, Skype-Gesprächen. Hirschberger und ihre Nachfahren besuchen regelmäßig unsere Pension, bringen Fotos aus der Vorkriegszeit, erzählen aus der Vergangenheit. Über Vertriebenendiskurs, Nationalitäten und die Unkenntnis der Sprache des Anderen hinweg treffen sich in diesem Dorf Menschen auf einer Ebene, die auf tiefgehendem Mitgefühl, Verständnis und Menschlichkeit beruht, und zwar schon seit mehreren Jahrzehnten.
(Morgen dann der letzte Teil…)
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