Der Wirbelsturm
Es ist ein glasklarer Sonntagmorgen Ende Dezember, als ich im zweiten Stock der Pension meiner Eltern im masurischen Dorf Idzbark aus dem Fenster schaue. Die Ahornallee, die an Sommerabenden in der Glut der untergehenden Sonne schmilzt, steht jetzt weiß und bleiern da. Es herrscht Windstille. Der Himmel lichtet sich, und Sonnenstrahlen fallen zuerst auf den hinter der Allee gelegenen Dorfsportplatz, dann auf den kleinen Dorffriedhof aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg. Mein Fensterblick ist ein Kitschbild von Thomas Kinkade in Babyblau, Weiß und Grau. Der Schnee bedeckt alles, Raum und Zeit sind wie tiefgefroren. Eine Kaffeetasse in der Hand, versinke ich in Gedanken und reise in den Januar 1945.
Zwei Stunden bevor am Freitagmorgen, den neunzehnten Januar 1945, in Hohenstein die Sonne aufgeht, machen sich Heinz Erling, sein Cousin Fritz Bonin und dessen jüngerer Bruder Lothar auf den Weg zum Hohensteiner Bahnhof. Sie kehren der nach ihrem berühmten Abgänger benannten Behring-Schule buchstäblich den Rücken und marschieren zügigen Schrittes durch den eiskalten Morgen, um den Sechsuhrzug nach Osterode zu bekommen. Von dort aus will Heinz in das sechs Kilometer entfernte Lubainen laufen. Fritz und Lothar sind in dem zwei Kilometer weiter gelegenen Hirschberg zuhause, wo ihre Mutter jetzt ahnungslos ihre zwei kleinen Töchter versorgt. Die drei Burschen sind nicht gerade stolz darauf, die Schule zu schwänzen. Sie fassten diesen Beschluss am Vortag, als sie von der Dachluke ihrer Schule aus den Himmel über dem 30 km entfernten Neidenburg blutrot aufleuchten sahen. Es schien zu stimmen, was Heinz an diesem Tag auf dem Postamt gehört hatte. Die Russen waren da. Nicht ahnend, dass kurze Zeit später Bomben auf die Bahnhofsgegend von Hohenstein fallen werden, besteigen die drei den Zug. Den letzten Zug, der Hohenstein in Ostpreußen in diesem Winter wird verlassen können, und zwar pünktlich um sechs Uhr in der Früh. Wie es sich gehört. Die Strecke verläuft in der Nähe des größten ostpreußischen Kriegsgefangenenlagers, Stalag 1 b Hohenstein, in dem sich dieser Tage keine halbtoten, getünchten Leiber mehr in den Massengräbern wälzen. Bis vor wenigen Wochen unterstand es noch dem Generalleutnant Oskar von Beneckendorff und von Hindenburg, dessen Vater gleich nebenan im Reichsehrenmal Tannenberg ruht. Aber nicht mehr lange. Von Ruhe kann sowieso keine Rede mehr sein. Der Zug überquert die Neidenburger Chaussee. Den Schulschwänzern vergehen jegliche Gewissenbisse, als sie die Kolonnen von Flüchtlingswagen nach Norden ziehen sehen.
Vielleicht sitzt oder steht in diesem letzten Zug auch Hilde Butschkowski, ein junges Fräulein aus Steinfließ nahe Döhlau, das seine Pflichtlehre bei einem Zahnarzt in Hohenstein macht; und vielleicht ist Hilde mit ihren achtzehn Jahren noch zu jung, um die Weitsicht ihres Arbeitgebers wertschätzen zu können, der sie zur Ausreise gedrängt hat. Vermutlich ärgert sie sich, dass ihr keine Zeit geblieben ist, um sich von der Mutter und den beiden jüngeren Schwestern, Edith und Christel, daheim zu verabschieden. Hilde fährt ihrer sicheren und bequemen Zukunft im rheinländischen Meerbusch-Büderich entgegen. Die Mutter und die jüngeren Schwestern hingegen werden eines Tages in einem anderen Staat aufwachen, ohne sich vom Fleck gerührt zu haben. Aber langsam. Jetzt werden sie sich erstmal rühren müssen, um später doch nicht vom Fleck zu kommen. Das ist das Verrückte in dieser Zeit, in der ein monströser Kehrbesen durch Europa fegt und schätzungsweise 30 Mio. Menschen durcheinanderwirbelt wie Staubflocken auf dem Flurboden. Den fegt an diesem kalten Freitagmorgen Ottilie Butschkowski, als ihre jüngste Tochter Christel das Haus verlässt, um mit der zwölf Jahre alten Edith zur Volksschule in Döhlau zu marschieren. Mit dem Schulranzen auf dem Rücken wartet Edith schon draußen im Schnee und schaut neugierig zu dem Gutsverwalter auf, der ihr hoch zu Ross entgegenkommt. „Der da auf dem Pferd angeritten kam, der sagte wir sollten uns vorbereiten, wir sollten packen und wir müssten nicht zur Schule an diesem Tag. Das fand ich natürlich toll. Wir sollten also warten, sie würden uns am nächsten Tag oder den Tag darauf Bescheid geben. Wären wir gleich am nächsten Tag… ach…“, die Zweiundachtzigjähre macht eine abfällige Handbewegung, um mir die Sinnlosigkeit des Unterfangens klarzumachen. Sie trägt einen hellen, erdfarbenen Pullover und ein Halstuch. Ihr kurzes, dauergewelltes Haar ist sorgfältig frisiert, das Make-Up dezent, die Augenbrauen leicht mit Kajal nachgezogen. Meine Tante Edith hat sich bereit erklärt, mir von ihren Erlebnissen im Januar 1945 zu erzählen, und ich zeichne das Gespräch auf, das wir am Küchentisch meiner Großmutter in Idzbark führen. Tante Edith spricht größtenteils Polnisch, manchmal wechselt sie mitten im Satz ins Deutsche. Durch das Küchenfenster schauen wir links auf die Pension meiner Eltern, in deren Dachgeschoss ich vorübergehend wohne, bis nebenan mein eigenes Haus fertiggebaut ist. „Heute sprechen Eltern mehr mit ihren Kindern, aber damals sagte Mutter nur: Naja, wir müssen packen. Ach, ich war dumm wie ein Kohlstrunk.“ Sie packen also. Die Mutter steigt auf das Kanapee und nimmt den Wandteppich von der Wand. Sie schneidet ihn in zwei gleich große Teile und entfernt die Fransen, um aus dem Stoff den Mädchen Rucksäcke zu nähen. Als Proviant holt sie getrocknete Brotreste hervor, die sie wochenlang und von den Töchtern unbemerkt gesammelt hatte. „Ich weiß noch wie der Großvater, den wir zu Weihnachten oben in Mühlhausen besuchten, zu meiner Mutter sagte, hier sei bald Krieg. Die in der Stadt wussten ja viel mehr, als wir hier in diesem Nest. Er befahl ihr, das Nötigste von Zuhause herzubringen, aber Mutter hat sich nicht entscheiden können “, fährt Tante Edith fort.
Als am Samstag, den 20. Januar, die drei in Steinfließ ihre Entscheidung doch noch treffen und packen, rollen nur wenige Kilometer weiter östlich schon die Räder der Treckwagen nordwärts, Richtung Osterode und Elbing. Der Treck kommt auf der Hohensteiner Chaussee noch ca. sieben Kilometer unbeschadet vorwärts, bis er bei Schildeck von zwei russischen Kampfflugzeugen beschossen wird. Des einen Leid ist des anderen Glück, das womöglich vielen Hirschbergern das Leben rettet. Als nämlich am Tag zuvor die drei Schüler des Hohensteiner Jungengymnasiums in Osterode aus dem Zug steigen, schlummert die „Perle des Oberlands“ friedlich unter der flauschigen Schneedecke, und die Hirschberger wollen erst recht nichts von einer Flucht wissen. Erst die Schüsse auf der nahe gelegenen Hohensteiner Chaussee bewegen am 20. Januar den Hirschberger Bürgermeister Emil Lipka dazu, die Räumung des Dorfes anzuordnen. Und hier beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, in dem die Bonins den Butschkowskis um einen ganzen Tag und um zwanzig Kilometer voraus sind. Trotzdem wird es für beide ein verlorenes Rennen. Die Nächte sind lang, die Straßen vereist. Auf den Feldern wirbelt der Schnee. Die breite Hohensteiner Chaussee muss für Fahrzeuge der Wehrmacht frei gehalten werden. Die Wagenkolonnen werden deshalb auf Nebenstraßen umgeleitet, wo der Ostwind seinen unheilvollen Abgesang auf Ostpreußen pfeift. Geschützdonner und Feuerschein von brennenden Ortschaften in der Ferne. Von Menschen, Kleidung, Bettzeug überquellende Wagen, dazwischen Menschen, die zu Fuß unterwegs sind und Handwagen oder Fahrräder schieben. Durchnässte Schuhe – schon jetzt- und laufende Nasen. Schreiende Säuglinge. Vom Wind getragenes Rasseln der deutschen Kettenfahrzeuge. Frauen, die darum betteln, auf einem der hoffnungslos überladenen Wagen mitgenommen zu werden. Pferde kommen auf den eisglatten Straßen nicht vorwärts, fallen um, stellen sich quer. Wagen krachen in die Straßengräben. Das ist nur der Vorhof der Hölle, die ihnen dicht auf den Fersen ist, und der sie doch knapp entkommen werden. Wenn in wenigen Stunden die Rote Armee in Osterode einmarschiert, wird aus der Perle des Oberlands ein glühender Feuerball. Fritz ist dann schon über die Hügel bei Pillauken, und Edith noch nicht einmal aufgebrochen. Es nützt alles nichts. Die Rotarmisten werden sie aufhalten. Für beide wird die Flucht dort enden, wo sie um den 20. Januar herum angefangen hat: in ihren Häusern, die ihnen nicht mehr lange bleiben werden. Die Uhr tickt. Den Bonins bleiben nur wenige Wochen mit dem Vater, der am 15. Februar von der Roten Armee verschleppt werden wird. Unter den kargen Ahornbäumen, vorbei am Dorffriedhof, wird er zusammen mit fünf weiteren Männern in den Osten ziehen. Sibirien? Vielleicht. Die Familie hört nie wieder etwas von ihm.
(Morgen geht’s weiter mit Teil 2)
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